Home Tolli im Hexen-Internat


27. Liveatmosphäre

Diesmal fand der Nachmittagsunterricht bei gutem Wetter statt, so dass die Schülerinnen mit mehr Begeisterung der Hexe Fantastika in den Zitterwald folgten. Bald schon stießen sie auf einen Reiher, der als Studienobjekt bestens geeignet war. Der langbeinige Stelzvogel stand bewegungslos mitten auf der Wiese einer kleinen Waldlichtung. Fast hätten sie ihn übersehen. Dass die dreizehn Schülerinnen ihn nun aufmerksam beobachteten, schien dem Tier völlig gleichgültig zu sein.
"Betrachtet die Körperhaltung des Reihers", forderte die Hexe Fantastika ihre Klasse auf. "Er steht völlig entspannt auf der Wiese. Sein Kopf ist weder gesenkt, noch erhoben. Seine Augen blicken auf einen bestimmten Punkt im Gras. Er ist die Ruhe selbst. Was sagt uns der Reiher?"
Tolli erkannte spontan: "Hier stehe ich, ich, der Reiher. Auf der Wiese jage ich nach Insekten oder Reptilien. Stört mich nicht bei der Arbeit."
"Das hast du wunderbar gesagt", lobte die Outdoor-Hexe sie. "Den Reiher jetzt anzusprechen, wäre grundfalsch. Deshalb gehen wir ruhig weiter und überlassen ihn seiner Nahrungssuche."
Tolli nickte eifrig zu den Worten der Lehrerin. Als sie ihren Weg fortsetzten, trat eine Mitschülerin ihr von hinten absichtlich in die Hacken und zischte: "Madame Wunderbar." Schnell drehte sich Tolli um. Es war Supi, die jetzt gemeinsam mit ihrer Freundin Natti albern kicherte.
"Die sind nur neidisch", meinte Belli herablassend. Und Schnippi fügte höhnisch hinzu: "Manche können einen Reiher nicht von einer Birke unterscheiden."
Gleich nach dem Waldgang mussten sich die vier Freundinnen wieder aufmachen, was sie mit Groll erfüllte. Tolli meldete sich bei der Hexe Vineta im Kräutergarten der Hexenschule. Auf dem Umhang der Hexe glänzte die Silberbrosche, die sie am Tag zuvor gefunden hatte.
"Heute ist Boretsch an der Reihe", erklärte die Hexe Vineta in ihrer sachlichen Art. "Der Boretsch, auch Gurkenkraut genannt, wächst in leichten Böden besser als in schweren. Dieses Beet dort ist dafür vorgesehen." Sie zeigte dem Mädchen, wie man dem zu schweren Boden viel Torf beimischte. Danach säten sie an Ort und Stelle in einem bestimmten Reihenabstand dünn aus, bedeckten den Samen mit Erde und klopften mit einer flachen Schaufel die Aussaat gut an.
Rasch verging die Zeit. "Alles halb so schlimm", dachte Tolli vergnügt, während sie in das Hexen-Internat zurücklief. Sie stürmte in ihr Zimmer. Aufgeregt berichtete Frosti: "Stellt euch vor, die ganze Disco ist verschwunden. Wie weggezaubert oder weggehext. Nichts deutet darauf hin, dass wir heute nacht dort getanzt haben."
"Bestimmt hat die Oberhexe mal gründlich im Keller aufgeräumt", sagte Belli belustigt, worauf die Mädchen gackernd lachten.
***
Am nächsten Morgen beeilten sich die Freundinnen, in ihr Klassenzimmer zu kommen, da sie hofften, die Flirt-Kamera live zu erleben. In der zweiten Stunde hatten sie Hexenmathematik, und natürlich kam das Hexeneinmaleins dran, das Tolli ein Graus war. Rechnen war nicht gerade ihre Stärke. Ihre Klassenlehrerin schien dies zu ahnen, denn sie las mit wütender Stimme vor: "Du musst verstehn! Aus Eins mach Zehn, und Zwei lass gehen." Dann starrte sie in die letzte Reihe und rief Tolli auf. "Was ist damit gemeint?" Die kalten Augen der Hexe funkelten sie böse an.
"Ja, also ...", stotterte Tolli hilflos. "Vielleicht eine Zahlenkette."
"So, so!", kreischte die Hexe Berberitze. "Eine Zahlenkette. Mehr fällt dir dazu nicht ein? GOETHE WÜRDE SICH IM GRAB HERUMDREHEN!"
Stumm erwiderte Tolli den starren Blick der Klassenlehrerin. Sie hörte ein paar Mitschülerinnen verhalten lachten. Beschämt senkte Tolli den Blick und da sah sie, dass die Flirt-Kamera blinkte. O Schreck! Ausgerechnet in diesem kritischen Augenblick!
Aber sie war ja so schrecklich neugierig. Und ohne es eigentlich zu wollen, klickte sie das Symbol an.



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