Home Tolli im Hexen-Internat


21. Die Silberbrosche

"Aber ja, ich will Hexe werden", protestierte Tolli, dabei riss sie die Augen weit auf. "Und hier heiße ich Tolli", erinnerte sie ihren Vater. Herr Wertmann blickte leicht enttäuscht. "Schade. Ich habe gehofft, du kommst zur Vernunft, sobald du die ersten schlechten Erfahrungen in der Hexenschule machst", meinte er ehrlich. Er seufzte tief auf. "An Tolli kann ich mich nicht gewöhnen. Der Name klingt so ...", er zögerte, "so außergewöhnlich."
"Mir gefällt Tolli. Den Schulnamen durfte ich selber aussuchen", versicherte Tolli eigensinnig. Sie dachte daran, dass ihr Gespräch vielleicht abgehört wurde und beschloss, weder ihre übertrieben strenge Klassenlehrerin noch ihre Strafarbeit zu erwähnen.
"Du kannst jederzeit in dein Gymnasium zurückkehren, Bianca", erinnerte ihr Vater sie mit einem aufmunternden Lächeln. "Welche Schule hat schon ein halbes Jahr Probezeit und verbietet bis dahin den Besuch der Eltern! Und dann diese schlichte, praktische Kleidung! Du hast so viele schöne Sachen, in denen du hübsch aussiehst."
"Designer-Klamotten sind hier out. Außerdem trage ich bald eine Schuluniform. Jetzt muss ich halt durchhalten. Es ist ein Eignungstest, Papa. Wenn ich den bestehe, tanze ich einen Freudentanz."
"Ausgerechnet eine Hexenschule! Könnte es nicht ein kaufmännisches oder technisches Gymnasium sein oder dein altes Gymnasium, und du studierst später Rechtswissenschaft?"
"Nö! Ich will in keinem Büro sitzen." Finster blickte Tolli in die Kamera. Jetzt waren sie wieder bei ihrem Lieblingsthema angekommen und stritten sich dann endlos. Es war nicht auszuhalten! Anstatt Papa sie fragte, wieso es ihr in der Hexenschule gefiel, wollte er sie die ganze Zeit nur umstimmen. Er gab sich nicht die geringste Mühe, sie ein klein wenig zu verstehen. Auf der anderen Seite hatte er ihrem Plan zugestimmt. Aber vielleicht nur deshalb, weil er fest glaubte, sie würde es sich nach den ersten Problemen in der neuen Schule anders überlegen und aufgeben. Wenn doch ihre Mutter noch lebte und sie unterstützte!
Als ihr Vater sich schließlich verabschiedet hatte, empfand Tolli ein nagendes Unbehagen. Sie fühlte sich schuldig, weil ihr Vater mit ihr unzufrieden war. Der ganze Tag war ihr dadurch verdorben.
Ihre schlechte Laune hielt an. Selbst der Waldgang mit der Outdoor-Hexe stimmte sie nicht heiter. Danach musste sie im Kräutergarten arbeiten, was alles noch schlimmer machte. Lustlos schlicht sie in den hinteren Teil des Schulgartens, wo eine Hexe gebückt vor einem Beet stand und säte. Als Toli sich ihr näherte, schaute die Hexe auf. Es war die Hexe Vineta.
"Was wird das?", fragte Tolli neugierig. "Ringelblumen. Ein altes Heilkraut, das desinfiziert und entgiftet."
"Und was ist das für eine Pflanze?" Tolli zeigte auf eine winterharte Staude neben dem Beet.
"Das ist Beifuß, die Mutter aller Kräuter", erklärte die Hexe Vineta geduldig. "Beifuß braucht einen durchlässigen Boden und viel Sonne." Ernst fuhr sie fort: "Ich habe eine besondere Aufgabe für dich, Tolli. Gestern ist mir beim Hacken meine Silberbrosche heruntergefallen. Leider habe ich es nicht bemerkt." Sie reichte Tolli einen kleinen Spaten. "Siehst du das Beet dort? Das neben den gestapelten Blumentöpfen. Grab doch mal ein bisschen nach der Brosche. Vielleicht findest du sie."
Was für ein Pechtag! Niedergeschlagen begann Tolli, die nasse schwere Erde des großen Beetes umzugraben. Bald schmerzte ihr abscheulich der Rücken bei dieser ungewohnten Arbeit. Sie fand eine Menge Regenwürmer, die sie nicht verletzten wollte, Steine, Wurzeln und krumme verrostete Nägel. Am liebsten hätte sie ihren Spaten hingeworfen und geschimpft. Trotzig grub sie weiter, Stück für Stück. Uff! Sie war längst noch nicht durch. Da beförderte ihr Spaten etwas Glänzendes ans Tageslicht. Verdutzt griff Tolli danach. Kein Zweifel, es war eine silberne Brosche in Form einer Fledermaus, deren Verschluss sich geöffnet hatte.
"Ich habe die Brosche gefunden!", rief sie überrascht. Schnell lief sie zu der Hexe Vineta, um ihr den Fund zu zeigen. Vorsichtig wischte Ihre Lehrerin das verschmutzte Schmuckstück mit einem Zipfel ihres Umhangs ab. "Das hast du gut gemacht", lobte sie das Mädchen.



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