Home Tolli im Hexen-Internat


50. O Schreck!

Auf halber Flugstrecke kam ihnen ein Junge in ihrem Alter entgegen geflogen. Dem Aussehen nach schien er ein Zauberschüler zu sein, trug er doch einen blutroten kurzen Umhang. Seine zitronenfarbenen langen Korkenzieher-Locken flatterten im Wind. Auf seiner Schulter saß kein Tier, wie Tolli sofort bemerkte.
"Da seid ihr ja!", begrüßte er mit einem breiten Grinsen die vier Freundinnen. Die Mädchen warfen sich vielsagende Blicke zu. Dieser Junge konnte nur Erik sein.
Und tatsächlich, der Zauberschüler flog einen eleganten Bogen, gesellte sich zu Belli, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. "Hi", säuselte Belli beeindruckt. Vor Lachen über so viel verliebtes romantisches Getue fiel Tolli schier von ihrem Besen.
Als sie das alte Forsthaus erreicht hatten, wurden sie mit großem Hallo von mehr als einem Dutzend Zauberschülern in blutroten kurzen Umhängen empfangen, die bereits in bester Stimmung waren.
"Hi!" "Klasse Idee, das mit der Disco!" "Hier gibt's Zaubertrank!" "Wer von euch ist Belli?" "Na, das sieh man doch, du Dummie."
Wie aufgescheuchte Krähen flogen die Jungen im waghalsigen Zickzackkurs über den Hexentanzplatz. Einer von ihnen wagte sogar einen übermütigen Salto auf seinem Besen. Dem Aussehen nach musste es sich bei dem Jungen um Theo handeln. Rasch schaltete Tolli ihren MP3-Player ein:
Hi Anton, zieh die Latschen an, wir fliegen jetzt zum Ballermann!
Vergnügt stellte sie die Lautstärke höher, denn hier hörte sie ja niemand, und drehte auf ihrem Flugbesen schnelle Runden, wobei sie versuchte, die Zauberschüler wiederzuerkennen. Wo war Per? Ja dort! Und Nero? Der mit den kantigen Gesicht. Dort oben flog Ingo. In Wirklichkeit sah der Junge viel hübscher aus.
Obwohl die Mädchen zur gleichen Zeit die gleiche Musik abspielen wollten, klappte es nicht ganz. Es entstand ein fürchterlicher Wellensalat.
Höllenzeit, es beginnt die Höllenzeit, in der Hitze der Höllenzeit, plus/minus 90 Grad.
Etwas vermisste Tolli. Keiner der Jungen wurde von einem Tier begleitet. "Wo ist deine lustige Ratte?", rief sie Ingo zu. "In der Schule. Discolärm ist nichts für meinen Lumpi." "Natürlich. Das habe ich ganz vergessen! Vielleicht sehe ich deinen Lumpi irgendwann mal in echt."
Rasch stopfte sie eine Packung Tierfutter in die Tasche ihrer Schulweste zurück und düste auf ihrem Besen weitere Runden über den Hexentanzplatz. Fast prallte sie mit Jack zusammen, der ihr durch seine runden Brillengläser verschmitzt zublinzelte. "Hi!", versuchte Jack mit ihr zu flirten, was bei dem Tempo nicht einfach war. Er wurde von Per weggedrängt, den Tolli an seinem langen Hals erkannte. "Einfach cool eure Disco!", grölte der Zauberschüler, bevor er von Nero überholt wurde. "Willst du mal ’nen Schluck?" Nero hielt ihr seine Flasche mit selbst gebrautem Zaubertrank hin. Der wehende Umhang des Jungen klatschte Tolli ins Gesicht. "Ne!", lehnte Tolli ab. Bevor sie so etwas trank, wollte sie wissen, aus welchen Zutaten das Gebräu bestand.
Jetzt, da sich die erste Aufregung gelegt hatte, übte Tolli verbissen, nach den Klängen der Discomusik auf ihrem Hexenbesen zu fliegen. Zuerst glaubte sie, es niemals zu schaffen. Sie schielte zu Belli hinüber. Wie machte es ihre Freundin nur, dermaßen geschickt langgezogene Steilkurven zu meistern? Dabei wurde sie von Erik begleitet, der kein Auge von ihr ließ.
Ein weiterer Blick zeigte Tolli, auch Schnippi und Frosti flogen gemeinsam mit den flinken Zauberschülern auf ihren Besen, ängstlich bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Frosti mit ihrer Brille gegen Höhenangst wirkte richtig interessant.
Nach einer Weile gelang Tolli der Durchbruch! Sie passte sich der lauten Musik an, flog verschiedene Figuren und empfand sich als Teil der im gleichen Rhythmus fliegenden Discobesucher. Es war ein irres Gefühl!
Als es zu dämmern begann, zündeten die Zauberschüler Fackeln an. Das gespenstische Licht erhellte ihre erhitzten Gesichter. Müde vom vielen Herumfliegen landete Tolli am Rande des Hexentanzplatzes, wo es bereits ziemlich dunkel war, und beobachtete das muntere Treiben ringsum. Ihre Besendisco war ein großer Erfolg!
Auf einmal hörte sie Schnippi über sich angsterfüllt schreien: "Tolli!"
Was hat sie denn nur?, dachte Tolli unbekümmert. Plötzlich spürte sie eine verknöcherte Hand, die sie hart an der Schulter packte, gleichzeitig wurde ihr von hinten der Besen entrissen.



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