Home Die Schattentochter


6

Wie erging es nun Jenny, als sie todesmutig in den tiefen Brunnen gesprungen war?

Sie wollte nicht mehr leben, aber es kam dann ganz anders.

Sie fiel kopfüber in den Schacht, zuerst durch Zwielicht, dann durch rabenschwarze Dunkelheit, und plötzlich tauchte sie in sprudelndes Wasser ein. Es war wie ein Kopfsprung vom Zehn-Meter-Brett in der Schwimmhalle, wenn du angstdurchschüttelt den Absprung gewagt hast."

Hier unterbrach Pia ungeduldig die redselige Ratte. "Sag' mal, Rattel, du bist doch noch nie von einem Zehn-Meter-Brett gesprungen. Wie kannst du da so tun, als wüßtest du alles darüber. Du weißt doch gar nichts. Von der Angst, vom Bibbern bis in die Fingerspitzen. Schon beim Drei-Meter-Brett habe ich Wackelpudding in den Knien."

"Mein liebes Kind", sagte Rattel lässig, "das ist dichterische Freiheit. Ohne dichterische Freiheit geht das Erzählen nicht. Aber unterbricht mich nicht ständig, sonst verliere ich den roten Faden. Wo bin ich stehengeblieben? Richtig! Es sprudelte und sprudelte, plötzlich fiel Jenny nicht mehr, sie stieg und stieg und tauchte in einem See auf.

"Wo bin ich?" rief sie. Oh, sie konnte wieder sprechen. Jenny war überwältigt vor Freude. Es war wie ein neues Leben.



© 1999 Helga Kochert. Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved